Werte differenzierter betrachten

Das Werte- und Entwicklungsquadrat

Das Werte- und Entwicklungsquadrat von Friedemann Schulz von Thun

Ist Ihr Unternehmen innovativ oder traditionell aufgestellt? Arbeiten Sie agil oder strukturiert? Oder können Sie und Ihre Mitarbeitenden sich bei solchen Fragen oft nicht entscheiden? Das brauchen Sie auch nicht. Lernen Sie vom Werte- und Entwicklungsquadrat, dass eine Entscheidung gar nicht sinnvoll ist.

Wenn es nach dem Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun geht, können sich Werte nur dann optimal entfalten, wenn sie in einem positiven Spannungsverhältnis zu einem „Schwesterwert“ stehen.

Plädoyer für die Integration von Gegensätzen

Seine Erkenntnisse hierzu hat Schulz von Thun im Werte- und Entwicklungsquadrat beschrieben. Er hat die Entdeckung des Wertequadrats selbst als „kopernikanische Wende“ bezeichnet. Das mag etwas übertrieben klingen. Dem Quadrat gebührt jedoch ein prominenter Platz in der Werkzeugkiste der internen Kommunikation: Es ist ein hilfreiches Plädoyer, Werte differenzierter zu betrachten und nicht in eine absolute Haltung („Dieser Wert ist aber der wichtigste!“) zu verfallen. Es schärft den Blick für eine Integration von vermeintlich gegensätzlichen Werten. Und auf der ganz praktischen Ebene hilft das Quadrat, Wertediskussionen zu eröffnen, zu strukturieren und Interventionen und Maßnahmen zu entwickeln.

Habe ich Sie neugierig gemacht? Dann erläutere ich Ihnen das Quadrat anhand des Beispiels „Agilität“. Einen kleinen (Lese-)Hinweis gebe ich Ihnen noch mit auf den Weg: Die Durchdringung des Quadrats braucht – sollten Sie es noch nicht kennen – einen Moment Ihrer Aufmerksamkeit. Am besten betrachten Sie kurz die Beispiel-Grafik und die Grafik mit den theoretischen Grundlagen weiter unten im Text. Gehen Sie dann zum Lesen über.

Das Quadrat am Beispiel von „Agilität“

Schulz von Thun argumentiert, dass zwei Werte einen komplementären Gegensatz bilden und in einem positiven Spannungsverhältnis zueinander stehen. Statt von Wert spricht er auch von Tugend, Prinzip oder Qualität.Das Werte- und Entwicklungsquadrat anhand des Beispiels "Agilität" für die interne Kommunikation nutzen

In meinem Beispiel braucht das Prinzip „Agilität“ also einen komplementären Gegensatz, um sich voll entfalten zu können. Als „Schwesterprinzip“ habe ich „Struktur“ gewählt. In Ihrer Praxis könnten natürlich andere Prinzipien oder Werte in Frage kommen, die Sie am besten partizipativ in einem Workshop erarbeiten (lassen).

Bei der Ausbalancierung des Spannungsverhältnisses geht es nicht darum, die „goldene“ Mitte oder einen Kompromiss zu finden, sondern um eine dynamische Balance. Es kann sein, dass in Ihrem Unternehmen einige Tätigkeiten agiler (z.B. bei der Produktentwicklung), andere jedoch strukturierter (z.B. bei der Buchführung oder bei Compliance-Themen) ausgeführt werden. Es geht also nicht um eine „Entweder-oder-Haltung“ im Unternehmen, sondern um ein sinnvolles „Sowohl-als-auch.“

Warum braucht aber jeder Wert einen „Schwesterwert“? Die Balance der beiden verhindert, dass ein Wert übertrieben gelebt wird und somit zu einem negativen Gegenpol verkommt. Schulz von Thun spricht auch von „Unwert“.

Sollte also „Agilität“ – weil die Struktur fehlt – zu stark und übertrieben gelebt werden, könnte sie zu „Chaos“ verkommen. Sollte die „Struktur“ – weil die Agilität fehlt – übertrieben werden, könnte die Organisation erstarren. Auch hier habe ich Begriffe (Chaos und Erstarrung) gewählt, die Sie in Ihrer Praxis und in einem Workshop vielleicht anders wählen würden.

Die negativen Gegenpole „Chaos“ und „Erstarrung“ sind diametrale Gegensätze und befruchten sich nicht. Schulz von Thun geht in seinen Arbeiten noch tiefer auf diesen Gegensatz ein.

Vom Werte- zum Entwicklungsquadrat

Das Quadrat zeigt nicht nur die Wichtigkeit von Wert und „Schwesterwert“ und die Gefahr von Übertreibungen auf. Es beinhaltet auch eine Entwicklungskomponente bzw. Entwicklungsrichtung, die sich überkreuzen. Sie kommt zum Tragen, wenn Sie von einem negativen Wert/Gegenpol ausgehen und ihn bearbeiten wollen. Um die Übertreibung zu „neutralisieren“ und um in Balance zu kommen, brauchen Sie eine „Portion“ vom diagonalen Wert.

Zurück zu den Begriffen aus unserem Beispiel: Wenn es also in Ihrer Organisation durch übertriebene Agilität zum Chaos kommt, liegen Ihre Chancen in mehr Struktur. Und wenn Sie es übertreiben mit der Struktur bis zur Erstarrung, liegen die Chancen in der Agilität. Lassen Sie sich dabei von der Frage leiten: „Welches Maß ist sinnvoll, um die Balance zu halten?“. Die Antwort sollte erste Umsetzungsideen andeuten. Hilfreich ist dabei auch, darauf hinzuweisen, was an Strukturanteilen weiterhin gewünscht und erhalten bleibt. Sie werden sicherlich nicht komplett in die Agilität kippen. Diese Information wird eine Entlastung für die Bezugsgruppe sein, die sich mit Veränderungen schwerer tut.

In der Praxis mit dem Wertequadrat arbeiten

Wie können Sie diese Erkenntnisse nun am besten in Ihre Praxis umsetzen? Ich zeige Ihnen in aller Kürze eine Möglichkeit:

Wenn Sie sich in einer Wertediskussion befinden, nutzen Sie das Quadrat als Einstieg und Strukturierungshilfe. Organisieren Sie einen Workshop und wählen Sie die Teilnehmenden so aus, dass ein Querschnitt des Unternehmens oder der Abteilung anwesend ist. Einigen Sie sich auf ein Ziel, z.B. die Arbeit an einem gelebten Wert oder an einem Wert, den Sie anstreben wollen. Stellen Sie den Teilnehmenden das Quadrat kurz vor: Entweder anhand eines Beispiels und/oder anhand des theoretischen Hintergrundes. Die folgende Grafik unterstützt Sie dabei. (Eine Anmerkung dazu: Ich habe das Quadrat nicht 1:1 von Schulz von Thun übernommen, weil ich die Begrifflichkeiten z.T. nicht mehr zeitgemäß fand.)Das Werte- und Entwicklungsquadrat von Friedemann Schulz von Thun für die interne Kommunikation nutzen

Wenn Verständnisfragen geklärt sind, arbeiten die Teilnehmenden in Kleingruppen. Sie können folgende Fragen zur Hilfestellung mitgeben:

  • Woran machen wir den Wert fest?
  • Was passiert, wenn wir den Wert übertreiben?
  • Welcher Schwesterwert ist passend und in welchen Situationen?
  • Wie erreichen wir ein positives Spannungsverhältnis? Wie schaffen wir eine Integration der beiden, ohne „faule“ Kompromisse einzugehen?
  • Was soll unbedingt beibehalten werden? Wovon sollten wir uns verabschieden?
  • Wie können ersten Schritte aussehen?

Im Anschluss werden die Ergebnisse im Plenum zusammengetragen und diskutiert. Einigen Sie sich auf Umsetzungsschritte, kommunizieren Sie sie in die Organisation und starten Sie mit ersten Maßnahmen.

Für Geschichtsinteressierte: Die Daten hinter dem Quadrat.

Friedemann Schulz von Thun hat das Wertequadrat Mitte der 80iger Jahre zufällig in einer Bibliothek beim ziellosen Blättern entdeckt. Paul Helwig, ein deutscher Psychologe, beschreibt es in seinem Buch „Charakterologie“. Er selbst hat es Mitte der 1930iger Jahre von seinem Doktorvater, dem Berliner Philosophen Nicolai Hartmann, übernommen, soll dabei aber plagiiert und seine Quelle nicht sauber angeben haben.

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Bildnachweis: Grafik und Gestaltung – Freyja Kok

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